Das japanische Zeichentrickfilmstudio Ghibli ist mit seinen Meisterwerken wie "Prinzessin Mononoke", "Mein Nachbar Totoro" oder "Chihiros Reise ins Zauberland" schon längst nicht nur Anime-Fans ein Begriff. Dementsprechend groß ist das Interesse an "Ni no Kuni: Der Fluch der weißen Königin", einem Spiel, das unter der Regie der herausragenden Zeichentrickmacher entstanden ist. Eine spannende Geschichte, die Jung und Alt begeistern kann, scheint schon fast vorherbestimmt zu sein, doch eine wichtige Frage bleibt immer noch offen: Was hat "Ni no Kuni" als ein Rollenspiel zu bieten? Eine ausführliche Antwort darauf liefert das folgende Review.
Die zweite Erde
Der Protagonist von "Ni no Kuni: Der Fluch der weißen Königin" ist ein kleiner Junge namens Oliver, der in der Stadt Motorville zusammen mit seiner Mutter Allie wohnt. Er lebt ein ganz normales Leben und sein größter Traum ist es, mit seinem Freund Philip das beste Auto aller Zeiten zu bauen. Der künftige Held ahnt nicht, dass eine maskierte Frau mit ungeheuren magischen Kräften jeden seiner Schritte auf einer Art Kristallkugel beobachtet. Obwohl der Bengel harmlos zu sein scheint, beschließt sie, dessen Ableben mithilfe eines Fluchs zu beschleunigen, ehe er zu einer Gefahr für sie werden kann. So geschieht es, dass Oliver bei der Testfahrt eines selbstgebauten Gefährts die Kontrolle darüber verliert, von der Straße abkommt und in einen Fluss stürzt. Als er zu ertrinken droht, spürt seine Mutter die Gefahr. Sie schafft es, die Unfallstelle rechtzeitig zu erreichen und ihren Sprössling aus den Fluten zu ziehen. Leider verausgabt sich die Ärmste bei der Rettungsaktion derartig, dass sie kurze Zeit später einem nicht diagnostizierten Herzleiden erliegt.
Es ist durchaus verständlich, dass Oliver, der über Nacht zu einem Waisenkind geworden ist, tränenreich um seine Mutter trauert. Sein Augenwasser bringt jedoch auch Gutes mit sich, denn es erweckt die tropfenähnliche Stoffpuppe des Helden zum Leben. "Tröpfchen" oder "Mr. Drippy", wie er in der englischen Sprachausgabe genannt wird, ist eine Fee, die vom bösen Dschinn Shadar erst in eine Puppe verwandelt und dann in eine andere Welt verbannt worden ist. Der magische Zwerg fordert Oliver auf, statt Trübsal zu blasen, ihm lieber dabei zu helfen, seine Heimatwelt vor den dunklen Machenschaften des bösen Unholds zu befreien. Er spricht von Ruhm, Ehre sowie der Möglichkeit zu lernen, echte Magie zu nutzen. Entgegen allen Erwartungen lehnt Oliver zunächst ab. Erst als er erfährt, dass die Bewohner von Tröpfchens Heimat über ihre Seele mit der diesseitigen Welt verbunden sind und mit ihren Doppelgängern dasselbe Schicksal teilen, willigt er ein, mitzukommen. Der Held möchte nämlich, das Gegenstück zu seiner Mutter – die Große Weise Alice – finden, die sich höchstwahrscheinlich in großen Schwierigkeiten befindet, wenn ihr diesseitiger Zwilling an einem plötzlichen Herztod gestorben ist. Indem Oliver die Frau rettet, hofft er gleichzeitig mithilfe der Seelenverbindung seiner Mutter neues Leben einhauchen zu können.
Herzensangelegenheit
Olivers Abenteuer beginnt damit, dass der Junge sich nachts von zu Hause davonschleicht, um das mit seinem Freund Philip gebaute Auto heimlich zu testen. Hierbei wird der Spieler mit den Grundlagen der Fortbewegung in einer gefahrlosen Umgebung vertraut gemacht. Ein sternförmiger Marker zeigt auf der Minikarte den Zielort der aktuellen Mission an. Die Spielfigur soll mithilfe des linken Analogsticks des Playstation-3-Controllers dorthin bewegt werden, um ein bestimmtes geskriptetes Ereignis – in diesem Fall den Beginn der verhängnisvollen Testfahrt – zu initiieren. Solange man den Zielort meidet, geht die Hauptgeschichte nicht weiter. Diese Tatsache kann später genutzt werden, um den Helden sowie dessen Begleiter in der Umgebung trainieren zu lassen, ehe ein gefährlicher Gegner besiegt werden soll.
Sobald der Protagonist das markierte Gebiet erreicht, folgt in der Regel eine Zwischensequenz, die entweder in Spielgrafik oder in dem für das Ghibli-Studio typischen Zeichentrickfilm dargestellt wird. Zu diesem Zeitpunkt kann man sich für ein paar Minuten zurücklehnen und das Schauspiel genießen, denn weder Quicktime-Ereignisse noch irgendwelche Entscheidungen auf Knopfdruck stören den Verlauf der erzählten Hintergrundgeschichte. Im weiteren Fortschritt der Handlung erlangt Oliver mithilfe eines gefundenen Zauberstabs sowie eines Grimoires – dem sogenannten "Magischen Begleiter" – die Fähigkeit, in Tröpfchens Heimatwelt zu reisen. Leider ist der wundersame Stecken noch nicht mächtig genug, um die angriffslustigen Monster, die überall herumlaufen, in Schach zu halten. Glücklicherweise kann der Held mit der Kraft seines reinen Herzens einen Vertrauten heraufbeschwören, der die meisten "aggressiven“ Verhandlungen für ihn austrägt.
Das Kampfsystem von "Ni no Kuni" ähnelt stark dem aus "Final Fantasy XII", denn auch hier werden die Gegner zunächst auf einer großen dreidimensionalen Landschaft als animierte Figuren dargestellt, die auf den Helden zustürmen, sobald er in ihren Wahrnehmungsbereich eingedrungen ist. Da die Viecher sich in der Regel viel schneller als der Hauptcharakter fortbewegen, ist eine Flucht vor dem bevorstehenden Kampf unmöglich. Bei Kontakt eines Monsters mit der Spielfigur wird die "Reiseoberfläche" des Spiels ausgeblendet und eine Arena, deren Aussehen sich an der zuvor betretenen Umgebung orientiert, erscheint. In der Gefechtsumgebung kann der Spieler entweder seinen Familiar in den Kampf schicken oder selbst mit vernichtender Magie, die im Laufe des Abenteuers erlernt wird, die Gegner ausschalten. Da alle Fähigkeiten nach einem Einsatz eine Abklingzeit haben, muss der Spieler diese Wartezeit möglichst schadlos überstehen, indem er flink den feindlichen Hieben ausweicht. Erschwerend kommt noch die Tatsache hinzu, dass der eigene Vertraute aufgrund seiner Ausdauer nicht unbegrenzt kämpfen kann, sondern ab und zu gegen Oliver ausgetauscht werden muss, um sich wieder erholen zu können.
Manchmal setzen mächtige Feinde – insbesondere Endbosse – Attacken ein, denen man nicht ausweichen kann. Trotzdem ist der Held diesen mächtigen Angriffen nicht gänzlich schutzlos ausgeliefert, denn es ist ihm möglich, eine Haltung einzunehmen, die den eingesteckten Schaden minimiert. Allerdings ist es oftmals schwierig, die bevorstehende Spezialattacke zu erkennen beziehungsweise rechtzeitig in die Defensive zu gehen. Darüber hinaus muss die Schutzhaltung wieder aufgegeben werden, wenn der eigene Kämpfer wieder mobil und einsatzfähig sein soll. Sobald das Gefecht erfolgreich bestritten worden ist, erhalten Oliver und seine Weggefährten, zu denen später nicht nur vertraute, sondern auch andere Charaktere zählen, Erfahrungspunkte, Geld und gelegentlich auch wertvolle Items. Mit zunehmender Erfahrung steigen die Charaktere in ihrer Stufe auf und die Attribute wie Stärke, Abwehr oder Schnelligkeit nehmen dabei automatisch zu. Dasselbe gilt natürlich für die Vertrauten, wobei diese zusätzlich der Beschränkung unterliegen, dass sie sich die Lebens- und ebenso Magiepunkte mit ihrem "Meister", der sie beschworen hat, teilen. Deswegen sollten die Hauptfiguren bevorzugt Ausrüstung tragen, die diese beiden Eigenschaften verstärkt, auch wenn sie selbst nicht so oft an Gefechten teilnehmen sollten.
Das Inventar in "Ni no Kuni" ist riesig und erfüllt alle Erwartungen in ein japanisches Rollenspiel. Angefangen bei Waffen sowie Rüstungen für Charaktere mit ihren Vertrauten, über Tränke gegen alle möglichen Verletzungen bis hin zu Handwerkszutaten für die Alchemie finden allerlei Gegenstände Platz in Olivers bodenlosem, magischem Beutel. Das wunderbare Gefäß, das vielen Gesetzen der Physik trotzt, wird übrigens seinem Namen nur gerecht, solange man nicht mehr als 99 Einheiten eines jeweiligen Items tragen möchte. Der Sammeltrieb wird gezielt gefördert, indem beispielsweise die besten Waffen im Spiel nur mithilfe von äußerst seltenen Zutaten hergestellt werden können. Einige Rezepte dazu stehen im "Magischen Begleiter", andere dagegen erhält man erst beim erfolgreichen Abschluss eines entsprechenden Auftrags. Zusätzlich wird der Jagdinstinkt des Spielers durch die Tatsache geweckt, dass er wie in "Pokémon" alle "normalen" Monster als Vertraute rekrutieren kann, sofern er sie besonders eindrucksvoll besiegt.
Wenn ein Zocker den Ehrgeiz hat, alle Geschöpfe – selbst die seltenen goldenen Exemplare – einzufangen, stehen ihm unzählige Stunden Spielzeit bevor. Zahlreiche Gebiete müssen zu diesem Zweck durchsucht werden, wobei einige Monster erst auftauchen, wenn das Spiel mindestens ein Mal durchgespielt worden ist. Noch länger benötigen Perfektionisten, die jeden Vertrauten auf den Maximallevel 99 trainieren beziehungsweise zu noch mächtigeren Kreaturen weiterentwickeln und ihre Stärken mit besonderen Leckereien weiter ausbauen. Das Spiel ist aber auch ohne den offensichtlichen Appell an die Jäger und Sammler langwierig, denn die Hintergrundgeschichte des Titels fordert, dass Oliver nahezu jeden Winkel der Parallelwelt bereist. Dabei trifft er auf Bewohner des Zauberlandes, denen Shadar ein Stück ihres Herzens gestohlen hat, um sie willenslos sowie gefügig zu machen. Zum Glück finden sich oftmals Persönlichkeiten in der Nähe, die just diese verlorene Herzenseigenschaft wie beispielsweise "Güte" in Überfluss haben und gern mit jemand anderem teilen. Der Held kann als Magier dann den Transfer vom Wohltäter zum Opfer mittels der Zauber "Herz sammeln" beziehungsweise "Herz schenken" übernehmen.
Im Laufe des Abenteuers lernt der Protagonist viele weitere Sprüche, die nicht im Kampf, sondern zum Lösen von Rätseln eingesetzt werden. So muss Oliver zum Beispiel Statuen bewegen, um eine verschlossene Tür zu öffnen oder sich selbst scheintot stellen, um die Welt der Untoten betreten zu dürfen. Leider sind solche kniffligen Aufträge rar gesät und der zugehörige erlernte Zauber wird nach einmaliger Benutzung nie wieder benötigt. Viel öfter muss der Held den Botenjungen spielen, indem er irgendwelche Gegenstände besorgen soll. Alternativ darf der Protagonist gefährliche Monster zur Strecke bringen. Auch wenn die nahezu identischen Nebenquests auf Dauer langweilig sind, sollten sie nicht ausgelassen werden, denn einerseits winkt fürstliche Belohnung und andererseits gibt es Stempel für die Bonuskarte, mit deren Hilfe in der Abenteuergilde Spielefeatures wie etwa eine schnellere Reisegeschwindigkeit für die Gruppe freigeschaltet werden können.
Gelegentlich passiert es, dass der Spieler die Stärke der eigenen Streiter überschätzt und in einem Kampf unterliegt. Infolge des Ablebens erhält er anschließend die Wahl, entweder einen vorhergehenden Spielstand zu laden, den er hoffentlich an einem der zahlreich vorhandenen Speicherpunkte erstellt hatte, oder gegen einen Obolus an einem bestimmten Checkpunkt wiedererweckt zu werden. Übrigens darf man in der "Reiseumgebung" über das Spielmenü auf Knopfdruck speichern, während lediglich in Verliesen sowie Höhlen entsprechende Schreine, die gleichzeitig Gesundheit und Mana wiederherstellen, dazu benutzt werden sollen.
Die Tatsache, dass "Ni no Kuni" keinen Mehrspielermodus hat, bedeutet nicht, dass der Spieler allein beziehungsweise nur mit seinen Vertrauten unterwegs ist, denn später kommen einige computergesteuerte Charaktere hinzu, die den Protagonisten im Kampf aktiv unterstützen. Die KI-Steuerung ist erstaunlich gut und kann bei Bedarf sogar dahingehend verfeinert werden, dass entweder ein aggressives oder defensives Vorgehen bevorzugt wird. Schließlich darf der Spieler auch jederzeit die Kontrolle über andere Spielfiguren übernehmen, während sein Hauptcharakter wiederum dann automatisch agiert.
Lichtzauber
Obwohl "Ni no Kuni" den aktuellen Grafikkrachern wie "Skyrim" nicht das Wasser reichen kann, ist es wegen des Ghibli-typischen Grafikdesigns durchaus sehenswert. Die Charaktere, die Monster, die Landschaft und insbesondere die Endbosse sind äußerst kreativ gestaltet. Darüber hinaus verbindet das Spiel die Zwischensequenzen so gut mit der eigentlichen Handlung, dass Olivers Abenteuer wie aus einem Guss zu sein scheint. Besonders hervorzuheben ist die Gestaltung des digitalen Buchs "Magischer Begleiter", der allerlei schöne Abbildungen, nützliche Tipps und sogar spannende Geschichten aus der erfundenen Folklore der Parallelwelt enthält. Kein Wunder, dass dieser imposante Wälzer in gedruckter Form der Sammlerausgabe des Spiels – "Wizzard's Edition" – beiliegt.
Soundtrack
Die Animationstrickfilme aus dem Studio Ghibli zeichnen sich vor allem durch hervorragende, mitreißende Musik aus. "Ni no Kuni" bildet dabei keine Ausnahme, denn der von Joe Hisaishi komponierte sowie vom Philharmonischen Orchester Tokyo eingespielte Soundtrack macht das Spielen zu einem Genuss für die Ohren. Die hervorragende englische beziehungsweise japanische Sprachausgabe fällt Kennern und Puristen sofort auf, auch wenn sie leider oft von Texttafeln abgelöst wird. Ein weiteres Indiz für die Qualität dieses Titels ist die fehlerfreie Übersetzung aller Textinhalte ins Deutsche. Mehr kann man sich von einem JRPG nicht wünschen.
Fazit Ich habe bisher noch kein so elaboriertes japanisches Rollenspiel wie "Ni no Kuni" in die Hände bekommen und definiere es für mich persönlich als eine neue Messlatte für dieses Genre. Natürlich findet man die einzelnen Bestandteile dieses Titels in anderen Werken, doch es ist die perfekte Kombination, die Ghiblis Vorstoß auf den weltweiten Spielemarkt über andere herausragen lässt. Die Handlung ist spannend, das Grafikdesign hat einen Wiedererkennungswert aus den Animes und die Musik ist mitreißend. Dank der langen Spielzeit – selbst über das Spielende hinaus – werden die Zocker dieses Titels viel Freude an dem Werk aus dem Fernen Osten haben. (15.05.2013) |